Medizinische digitale Zwillinge (Medical Digital Twins, MDT) gewinnen zunehmend an Bedeutung, doch eine klare Definition fehlte bislang. Ursprünglich im Ingenieurwesen zur Analyse und Vorhersage realer Objekte eingesetzt, überträgt ein aktuelles Health-Policy-Papier dieses Konzept auf die Medizin. Der Begriff digitaler Zwilling wird manchmal auf ein eigenständiges Modell reduziert, das ein physisches Objekt nachbildet. Ein detailliertes Modell ist zwar ein zentraler Aspekt eines digitalen Zwillings, aber das ursprüngliche Konzept umfasst noch weitere Komponenten und Eigenschaften.
Ein medizinischer digitaler Zwilling ist eine kontinuierlich aktualisierte virtuelle Kopie eines Patienten, die aus multimodalen Daten wie Bildgebung, Genomik und Wearables erstellt wird. Er besteht aus fünf Hauptteilen:
- dem Patienten,
- der Datenverbindung,
- dem Patient-in-silico (dem Modell),
- der Schnittstelle,
- der Zwillingssynchronisation.
Im Gegensatz zu statischen Modellen entwickelt sich der Zwilling mit dem Patienten weiter, wenn neue Daten verfügbar werden, und spiegelt Veränderungen in der Krankheit oder im Ansprechen auf die Behandlung wider.
Forschungstechnisch könnte aktuell ein interessanter Anwendungsfall z.B . darin bestehen, Tausende täglich an Menschen durchgeführte MRT-Scans etc. dual durchzuführen - nämlich am digitalen Zwilling und der realen Person. Die resultierenden Studien könnten helfen, Möglichkeiten und Grenzen dieser Technologie zu ermitteln. KI ermöglicht die Extraktion und Fusion verschiedener Datentypen und unterstützt die Modellierung auch dann, wenn Krankheitsmechanismen unbekannt sind. Mechanistische Modelle nutzen die bekannte Biologie, um Krankheitsprozesse zu simulieren, und sind in verschiedenen Patientengruppen robust. Die Kombination von KI mit mechanistischen Modellen verbessert die Genauigkeit, Verallgemeinerbarkeit und Interpretierbarkeit des Patient-in-silico.
Große Sprachmodelle können als Schnittstellen fungieren und Modellausgaben in klare, umsetzbare Erkenntnisse für Kliniker übersetzen. Retrospektive Daten können inszeniert werden, um medizinische digitale Zwillinge vor dem Live-Einsatz zu testen, wobei die dynamische Natur des Zwillings erhalten bleibt. Frühe Anwendungen in den Bereichen Krebs und Diabetes zeigen das Potenzial, die Versorgung zu personalisieren, Resistenzen zu reduzieren und den Zugang zu erweitern.
Wie immer in diesen hochsensiblen Bereichen sind klare Standards erforderlich, um den Missbrauch des Begriffs "digitaler Zwilling" zu verhindern und sicherzustellen, dass die Modelle ihr klinisches Versprechen einhalten.
Quelle: Medical digital twins: enabling precision medicine and medical artificial intelligence, Sadée, Christoph et al., The Lancet Digital Health, Volume 0, Issue 0, 100864, DOI: 10.1016/j.landig.2025.02.004
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